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Donnerstag, 29. März
2012
Guten Morgen,
erfahrene Beobachter des
Bertelsmann-Konzerns erlebten gestern ein Déjà-vu: Das Unternehmen
aus Gütersloh träumt schon wieder von der Börse. Der neue Vorstandschef
Thomas Rabe sagte bei der Vorstellung der Bilanzzahlen, dass sich das
beinahe 180-jährige Unternehmen - bisher fest im Besitz der Eigentümerfamilie
Mohn - gerne für den Kapitalmarkt öffnen würde. Ex-Vorstandschef Thomas
Middelhoff verfolgte derartige Pläne schon vor zehn Jahren - und wurde nach
anfänglicher Unterstützung durch die Mohns gefeuert. Rabe hat gelernt:
Sein Modell sichert der Familie auch künftig die Mehrheit. Die anderen
Aktionäre, so sie denn an Bord kommen, haben eine Stimme, aber nichts zu sagen.
Der Widerstand gegen die Schlecker-Subventionen wächst: Eine
gemeinschaftliche Bürgschaft aller Länder zur Finanzierung einer
Transfergesellschaft für die insolvente Drogeriemarktkette wird es
nicht geben. Auch der Bund hat bereits abgewunken. Baden-Württemberg müsste
jetzt die 71 Millionen Euro allein finanzieren. Das kann teuer werden - vor
allem am Wahltag. Dann hätten Grüne und SPD zu erklären, warum sie einem
Pleitier mit miesen Arbeitsbedingungen und einer Ladenästhetik, gegen die
ein DDR-Konsum wie ein Luxustempel wirkt, mit Steuerzahlergeld versorgen
wollen.
Deutschland steht vor einem goldenen Jahrzehnt,
sagt der Ex-Chef der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup. CDU-Politiker Kurt
Biedenkopf, zuletzt Regierungschef in Sachsen, widerspricht und erinnert an
die demografischen Probleme, die sich nicht wegexportieren lassen. Meine
Kollegen Dorit Heß und Sven Afhüppe baten die beiden Kontrahenten auf unser
rotes Sofa, das in Frankfurt steht, zum Streitgespräch. Das Ergebnis, das
wir auf zwei Doppelseiten präsentieren, spiegelt das wider, was sich in unserem
Innersten seit längerem schon abspielt: Optimismus und Realismus kämpfen um
die Vorherrschaft.
Die Quoten waren schwächer als der Mann: Nach
nur einer Saison beendet der Privatsender Sat.1 die "Harald-Schmidt-Show".
Das muss nichts mit Schmidt zu tun haben. Vielleicht sollte man einfach das
Publikum austauschen. Womöglich waren die Sat.1-Zuschauer von der
Schmidt´schen Wortkunst überfordert. Das ideale Format für Schmidt könnte
eine fünfminütige Sendung direkt im Anschluss an die Tagesschau sein. Dann
bekämen wir Zuschauer endlich beides: erst die Wirklichkeit und dann die
Wahrheit.
Die Deutsche Bahn legt heute ihre Zahlen für das
Geschäftsjahr 2011 vor. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer hat
vorab eine "sehr gute" Bilanz in Aussicht gestellt. Nach unbestätigten
Berichten ist das Konzernergebnis im vergangenen Jahr vor Zinsen und Steuern
(Ebit) verglichen mit dem Vorjahr um 24 Prozent auf gut 2,3 Milliarden Euro
gestiegen, der Umsatz legte demnach um zehn Prozent auf 37,9 Milliarden Euro zu.
Wenn das stimmt, müssten die Steuerzahler dem tüchtigen Bahnchef Rüdiger
Grube heute Abend eine Kerze anzünden.
Die Diskussion um den
Aufstieg der Piraten bewegt die Leserinnen und Leser unserer Zeitung ganz
außerordentlich. Heute meldet sich unser Kolumnist Josef Joffe, im
Hauptberuf Publizist und "Zeit"-Herausgeber, zu Wort. In seinem Beitrag
bezeichnet er die Neuen als "Kinder des Populismus", um ihnen dann doch
einiges abzugewinnen. Zitat aus seinem Text:
"Manche Ideen sind
kindisch (Hochschulabschluss für alle), manche hanebüchen (weg mit geistigem
Eigentum!). Aber ein Elixier für das konsenssüchtige Kartell der Altparteien
sind sie allemal. Die ‚Neue Deutsche Einheitspartei‘ muss agiler und
debattierfreudiger werden."
Gestern Abend ging ein Ruck durch den
Newsroom unserer Zeitung: Drei Handelsblatt-Redakteure bekamen den
renommiertesten Journalistenpreis zugesprochen, den eine deutsche
Tageszeitung überhaupt gewinnen kann. Martin Buchenau, Jürgen Flauger und Sönke
Iwersen erhalten den Wächterpreis der Tagespresse 2012. Die Stiftung
"Freiheit der Presse" zeichnet die hartnäckigen Rechercheure für ihre
Berichterstattung über die Geschäfte des ehemaligen Ministerpräsidenten von
Baden-Württemberg, Stefan Mappus, aus. Die Autoren hätten "sauber, stringent
und nachvollziehbar die mehr als zweifelhaften Umstände des Ankaufs von 45
Prozent des Energieversorgers EnBW durch das Land Baden-Württemberg dargelegt
und analysiert", schreibt die Jury. Die Laudatio wird Hans-Dietrich
Genscher halten. Selten habe ich unsere gesamte Redaktion so stolz erlebt,
wie gestern nach Bekanntgabe des Juryvotums.
Ich wünsche Ihnen einen
guten Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie herzlich Ihr
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Gabor Steingart Chefredakteur
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